Hannelore Pachl ist 90 Jahre alt geworden. Ihr Sohn ermöglicht ihr nach 72 Jahren einen erneuten Besuch in Fritzlar.
Hannelore Pachl, früher hieß sie „Stanislawa Genofeva Kosjuska“ ist 1924 geboren und hat von 1932 bis 1944 in Fritzlar gelebt. Hannelore Pachl ist eine rüstige 90 -jährige, sie liest heute noch viele und dicke Bücher, da ihr das Halten der dicken Bücher Schwierigkeiten macht, hat sie sich einfach ein E-Book zugelegt.
Hannelore Pachl trifft die 8-jährige Angelina Jolie. So alt war Stanislawa Genovefa Kosjuska
als sie ins Kinderheim St. Josef kam.
Foto vom Haus Carl Sonnenschein
Stanislawa Genofeva ist Tochter einer alleinerziehenden Polin. In Hannover kommt sie mit ganz jungen Jahren das erste Mal ins Heim, ihre Mutter muss arbeiten und kann sich nur am Wochenende um ihre Tochter kümmern. „Ich weiß nicht, wie das damals im Heim war, ich war noch zu jung“, so Stanislawa
Die Mutter lernt einen neuen Lebensgefährten kennen und wohnt mit ihm in Altenbrunslar im Schwalm-Eder-Kreis. Die Mutter verstirbt in jungen Jahren ganz plötzlich an Herzversagen. „Sie saß neben mir auf der Bank, fiel einfach um und war tot.“
Inschrift
Foto vom Haus Carl Sonnenschein
Der damalige Kaplan Heim aus der Katholischen Kirchengemeinde in Fritzlar hat ihr Mutter in Altenbrunslar beerdigt und hat Stanislawa sofort nach der Beerdigung mit nach Fritzlar genommen und dort im Kinderheim St. Joseph, gleich gegenüber dem Dom, untergebracht.
Hannelore Pachl in ihrem ehemaligen Zimmer unterm Dach
Foto vom Haus Carl Sonnenschein
Stanislawa kommt 1932 und bezieht mit einem gleichaltrigen Mädchen ein Doppelzimmer unter dem Dach. Beim Besuch des alten Kinderheimes findet Stanislawa die Räumlichkeit gleich wieder, deutet auf die linke Seite neben dem Eingang, „da hat mein Bett gestanden“ - heute arbeiten dort die EDV-Leute der Stadtverwaltung Fritzlar.
Stanislawa berichtet von einem durchstrukturierten Tagesablauf: Aufstehen, Beten, Frühstück, Gottesdienst, Schule, Mittagessen, ein bisschen Freizeit am Nachmittag, wieder Gottesdienst im Dom, Abendessen und dann ins Bett.
Vier Ordensschwestern vom Mutterhaus der Vinzentinerinnen in Fulda haben mit den 15 Kindern gelebt. Eine war die Oberin, die andere für den Kindergarten zuständig, wieder eine für die Küche und eine für die Heimkinder. Eine Frau aus Fritzlar hat bei der Reinigung der Räume geholfen, die Kinder mussten nur ihr Zimmer aufräumen. Die Schwestern waren fürsorglich aber streng. „Ich habe nie gehungert, ich hatte nie Angst.“ Auch der damalige Dechant Selzer mit seinem Kaplan Heim haben die Kinder jeden Tag gesehen – „die waren nett zu uns“
Hannelore Pachl
Foto vom Haus Carl Sonnenschein
„Ein Höhepunkt im Jahr war, wenn ein Schwein geschlachtet wurde, dann gab es für jedes Kind ein Gehacktesbrot. Einmal bin ich während der Schule nochmals zurück. Die Küchenschwester Gertrudis hat mir ein zweites Brot gegeben, da ich so dünn war. Weihnachten wurde im Kindergarten im Erdgeschoss gefeiert – als Geschenk gab es selbstgestrickte Strümpfe oder eine Schürze. Alle haben sich gefreut.
Einmal im Jahr kam ein Paket aus Fulda, drin war gebrauchte aber gute Kleidung. Ich erinnere mich an einen weichen Pullover, der zu meiner Lieblingsbekleidung wurde“.
Als Stanislawa 14 Jahre alt wurde und die Volksschulzeit rum war, macht sie – wie alle anderen auch – ein Pflichtjahr bei einem Bauern ganz in der Nähe des Marktplatzes von Fritzlar. Sie verlässt das Kinderheim, wohnt auf dem Bauernhof und kriegt 10 Mark im Monat als Lohn.
„Fast jeden Tag bin ich ins Kinderheim und habe die Kinder und Schwestern besucht. Das war meine Familie, die haben sich um mich gekümmert.“ Ich hab viele Freundinnen in Fritzlar gehabt, eine wohnte im Internat der Ursulinen und kam aus Chile. Wir haben uns gut verstanden, doch plötzlich – irgend wann während des Krieges, war sie verschwunden.“
Anschließend will sie eine Ausbildung im Hotel Nägel machen – am 2. Berufsschultag stellt der Lehrer fest, dass sie Polin ist. Sie muss die Ausbildung sofort beenden. In der Zeit des Nationalsozialismus dürfen Ausländer nur arbeiten aber keine Berufsausbildung machen.
Nach dem 2. Pflichtjahr arbeitet sie drei Jahre in einer Gärtnerei ganz in der Nähe der Eder. Auch dort hat sie gewohnt, wurde gut behandelt, hat keinen Hunger gelitten und war mit vielen anderen ausländischen Helfern zusammen.
Hannelore Pachl mit Sohn und Schwiegertochter im Dom St. Peter
Foto vom Haus Carl Sonnenschein
„Das Schlimmste, was ich erlebt habe“ so Stanislawa „war die Reichskristallnacht am 9. November 1938. Es gab viele Juden in Fritzlar. Die wurden aus ihren Wohnungen geholt, die Möbel flogen auf die Straße. Es war furchtbar.“
Das zweite schlimme Erlebnis war im Sommer 43. „Die Staumauer des Edersees wurde gesprengt. Nachdem die 1. Flutwelle durch war, sah ich viele Leichen in der Eder schwimmen.“
1944 überlegt sich Stanislawa zu ihrer Freundin nach Berlin zu ziehen, die Koffer waren schon gepackt, aber sie hört auch von den Bombenangriffen auf Berlin und befürchtet, ihre Freundin nicht anzutreffen. So reist sie stattdessen einfach nach Marburg. Findet dort sofort Arbeit im Haushalt eines Professors, wechselte die Stelle und findet eine Neue. „Richtig gehungert habe ich erst nach der Zeit in Fritzlar. Einmal bin ich bewusstlos vor Hunger in der Marburger Innenstadt zusammengebrochen“
Stanislawa bleibt in Marburg, wird mit 21 Jahren Deutsche, nennt sich jetzt Hannelore Kurtz und gründet mit ihrem Mann die Familie Pachl, den Namen trägt sie heute noch.
Nach 72 Jahren ist Hannelore Pachl wieder in Fritzlar. Auf dem Programm steht der Besuch der Kinder- und Jugendhilfe Haus Carl Sonnenschein, der Bahnhof Fritzlar – „von hier bin ich sonntags öfters nach Bad Wildungen zum Kurkonzert gefahren“ - , das ehemalige Kinderheim am Dr. Jestädt-Platz, der Dom – „hier hat sich wirklich nichts verändert“ – der Marktplatz, das Rathaus und zum Schluss das Cafe Hahn – „das gab’s damals auch schon, im Krieg gab es Kriegstorte, irgend ein Rührkuchen, für den man seine Lebensmittelmarken abgeben musste“.
Für alle Beteiligten ein denkwürdiger Besuch einer heute noch lebenden Zeitzeugin. „Ihr habt mir eine Riesenfreude gemacht“