Grundrechte und Heimerziehung

grundrechte HeimerziehungDas Bundesverfassungsgericht kennzeichnet in seinem Beschluss vom 29.07.1968 (Recht der Jugend 1968 S. 342 ff., 345) den Minderjährigen als "ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem
eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG".

Die folgenden Grundsätze sind für alle Einrichtungen im Sinne des § 34 SGB VIII, in denen junge Menschen über Tag und Nacht betreut werden, verpflichtend.

Jede Einrichtung hat ein Beteiligungskonzept vorzulegen. Dieses Konzept ist Bestandteil der Einrichtungskonzeption und soll eine Interessenvertretung der Kinder und Jugendlichen sicherstellen. Im Beteiligungskonzept sind die folgenden Grundsätze zu berücksichtigen:

1. Entfaltung der Persönlichkeit
Dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entspricht der Anspruch auf Erziehung gemäß § 1 SGB VIII. Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen, neben der Wahrnehmung seines Wohls, zu Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu befähigen, ihn in die Lage zu versetzen, seine individuellen Bedürfnisse mit gesellschaftlichen Erwartungen derart in Einklang zu bringen, dass er eine handlungsfähige Persönlichkeit wird.

2. Unantastbarkeit der Würde des Menschen
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist oberster Grundsatz im Umgang mit den jungen Menschen. Werden erzieherische Sanktionen ergriffen, müssen sie in einem Zusammenhang mit der vorausgegangenen Verfehlung stehen und den Entwicklungsstand sowie die besondere Situation des jungen Menschen berücksichtigen. Bei Maßnahmen von einschneidender Bedeutung ist die Entscheidung nach einer gemeinsamen Beratung aller beteiligten Fachkräfte zu treffen.

Alle entehrenden Maßnahmen, insbesondere körperliche Züchtigung und diskriminierende Äußerungen, sind ausdrücklich untersagt. Körperlicher Zwang darf nur angewendet werden, wenn das unvermeidbar
ist, um den jungen Menschen daran zu hindern, Leben oder Gesundheit der eigenen Person oder anderer Personen unmittelbar zu gefährden oder Sachen von erheblichem Wert zu zerstören.

Die selben Voraussetzungen gelten für eine aus der Situation heraus unvermeidbare zwangsweise Einzelunterbringung, die überdies nur zulässig ist, wenn während dieser Intervention eine sozialpädagogische Fachkraft für den Minderjährigen ständig erreichbar ist.

In jedem Fall von körperlichem Zwang oder zwangsweiser Einzelunterbringung während des Heimaufenthaltes ist ein Protokoll anzufertigen und dem Minderjährigen zur Kenntnis zu bringen. Die Kenntnisnahme ist durch Unterschrift zu bestätigen, das Protokoll dem Landesjugendamt zuzuleiten.

3. Recht auf Bildung
Das Recht auf Bildung verpflichtet zu einer umfassenden Förderung der jungen Menschen.

Das Heim ist somit verpflichtet, den jungen Menschen in seinem schulischen und beruflichen Werdegang zu unterstützen.

Durch vielfältige Anregungen und Anleitungen soll das Heim dem jungen Menschen Gelegenheit geben, seine Begabungen zu entdecken und seine Interessen - auch außerschulischer Art - zu entwickeln. Begabungen und die Pflege der Interessen sind zu fördern.

Sofern nicht Gründe in der Person des Minderjährigen dagegen sprechen, sollen Schulbesuch und Berufsausbildung außerhalb des
Heimes erfolgen. Das lässt nicht nur ein größeres Bildungs- und Ausbildungsangebot zu, sondern fördert gleichzeitig den Kontakt zum sozialen Umfeld.

4. Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
Das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wird durch die Erziehung nicht eingeschränkt (Art. 4 GG, §§ 3 Abs.1 Satz 3). Bei der Entscheidung über die Unterbringung ist nicht nur der Wille der
Eltern, sondern - im Rahmen des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (RKEG) - auch der Wille des jungen Menschen zu berücksichtigen.

Die Erziehung in einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Grundrichtung rechtfertigt es nicht, den jungen Menschen zu religiösen Handlungen oder Übungen zu zwingen.
Dem jungen Menschen ist, wenn er einer anerkannten Glaubensgemeinschaft angehört, Gelegenheit zu geben, seine Religion zu praktizieren.

5. Recht auf Information und freie Meinungsäußerung
Den jungen Menschen sind Literatur, Zeitungen und Zeitschriften verschiedener Richtungen sowie sonstige Kommunikationsmittel zugänglich zu machen.

Die jungen Menschen dürfen in der Wahl ihrer Lektüre über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus nicht eingeschränkt, doch sollen sie zu kritischer Auseinandersetzung angeregt werden.

Die jungen Menschen haben das Recht, ihre Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Briefzensur ist unzulässig.

Der Inhalt von Berichten, die das Heim zu erstellen hat, ist mit den betroffenen jungen Menschen zu besprechen. Ihnen ist, soweit sie das wünschen, Gelegenheit zu geben, den Bericht durch eine Eigendarstellung zu ergänzen. Das gilt i. d. R. nicht für Gutachten und diagnostische Erstberichte. Inwieweit den jungen Menschen diese oder in die gesamte Heimakte Einblick gewährt werden soll, ist nach Lage des Einzelfalles zu entscheiden (z.B. bei Strafverfahren).

6. Recht auf Wahrung des Brief- , Post- und Fernmeldegeheimnisses
Dieses Recht steht jedem jungen Menschen im Heim zu und betrifft sowohl die eingehende als auch die ausgehende Post.

7. Recht auf Eigentum
Junge Menschen in Heimen und sonstigen betreuten Wohnformen muss gestattet sein, Eigentum (Geld, Kleidung, Gegenstände des persönlichen Bedarfs usw.) zu besitzen, zu erwerben und im Rahmen
ihrer Geschäftsfähigkeit bzw. des Einverständnisses der Personensorgeberechtigten über ihr Eigentum zu verfügen. Sie müssen auch die Möglichkeit haben, ihr Eigentum selbst so aufzubewahren, dass
es anderen nicht zugänglich ist.

Maßgeblich für die Verwendung der Ausbildungs- und Arbeitsvergütung sind die Empfehlungen zur Gewährung von Nebenleistungen in der jeweils gültigen Fassung.

Über das nach der hessischen Regelung zu gewährende Taschengeld steht den jungen Menschen die freie Verfügung zu. Abzüge vom Taschengeld als Mittel der Bestrafung sind nicht zulässig.

Hat ein junger Mensch einem anderen einen Schaden zugefügt und wird es erzieherisch als notwendig angesehen, ihn den Schaden mittragen zu lassen, muss dies dem Minderjährigen einsichtig gemacht
werden. Bei der Festlegung der Höhe und Dauer der Ersatzleistung ist darauf zu achten, dass der Minderjährige in der Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse nicht übermäßig eingeschränkt wird.

8. Selbständigkeit und Selbstverantwortung
Erziehung zur Selbständigkeit und Selbstverantwortung heißt, dass die Minderjährigen ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand entsprechend an allen sie betreffende Entscheidungen zu beteiligen sind. An die Stelle der Fremdbestimmung tritt zunehmend das Recht der Selbstbestimmung, z.B. Entscheidungen über

  • Gestaltung und Ausstattung der Räumlichkeiten
  • Wahrung der Intimsphäre
  • Übernahme von Verpflichtungen im Rahmen des Heimlebens
  • Freizeitgestaltung
  • Kontakte innerhalb und außerhalb des Heimes
  • Besuchsregelung
  • Urlaub
  • Umzüge (innerhalb des Heimes)

9. Interessenvertretung
Die Kinder und Jugendlichen sind bei dem Aufbau einer eigenen Interessenvertretung durch die Heimleitung und die Betreuer / Betreuerinnen bzw. aus dem Kreis des Betreuungspersonals zu benennende Heimratsberater / Heimratsberaterinnen zu unterstützen.
Den unterschiedlichen Belangen von Mädchen und Jungen ist dabei Rechnung zu tragen.

Die Interessenvertretungen der Heime werden durch die Heimleitungen und die Betreuer / Betreuerinnen bei der Bildung einer landesweiten Interessenvertretung (Landesheimrat) unterstützt.

Der Landesheimrat ist ein selbstorganisiertes Gremium auf freiwilliger Basis.

Der Landesheimrat wird durch das Landesjugendamt, den Beratern / Beraterinnen und den  Heimleitungen in seinen Bemühungen unterstützt. Hierfür organisiert das Landesjugendamt mindestens einmal pro Kalenderjahr eine Arbeitstagung an der Landesheimrat zu beteiligen ist.

Die Kinder- und Jugendvertretungen, der Landesheimrat und ihre Berater / Beraterinnen wirken bei der Verwirklichung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in den Heimen mit.

Die Mitwirkung der jungen Menschen bei der für sie zu leistenden Erziehungshilfe vollzieht sich auf der Grundlage des § 36 SGB VIII.

10. Petitionsrecht
Jeder junge Mensch hat das Recht, sich bei Nichteinhaltung eines seiner Grundrechte zu beschweren.

Die beteiligten Institutionen (Einrichtung, fallzuständiges Jugendamt, aufsichtführende Stelle) sind verpflichtet, dem jungen Menschen auf dessen Verlangen Auskunft über die zuständigen Stellen
zu erteilen und ihn bei der Wahrnehmung des Petitionsrechtes zu unterstützen.

Der junge Mensch hat Anspruch auf eine seiner Petition angemessene Antwort.

Soweit in Heimordnungen geregelte Rechte und Pflichten der Minderjährigen mit dieser Richtlinie nicht übereinstimmen, sind die Heimordnungen entsprechend neu zu fassen.

Anmerkung:
Die Empfehlungen des Landesjugendhilfeausschusses vom 10.11.2000 treten anstelle des Erlasses: "Grundrechte und Heimerziehung" des Hessischen Sozial-minsteriums vom 12.06.1972, StAnz.
Nr. 31/1972, S. 43. Entsprechendes gilt für Teil A Ziff. 2 der Richtlinien für Kinder- und Jugendheime in Hessen.

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